Anna Grass, Archäologin.
Anna Grass, die Protagonistin von „Im Namen der Venus“ und des „Teufel im Glas“, wurde 1981 in Wien geboren. Auf ihrer ersten archäologischen Ausgrabung findet sie die älteste Venusstatuette der Welt. Sie erhält einen Drei-Jahresvertrag am „Institut“ und wird vom Bundeskriminalamt als Gutachterin bei „speziellen“ Fällen zugezogen.

Selbstverständlich sind Personen und Handlungen meiner Romane frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Allerdings hat es eine Ursache, warum auf dem Cover von „Im Namen der Venus“ Fanny, die Venus vom Galgenberg abgebildet ist:
Ich freue mich sehr, daß Christine Neugebauer-Maresch das Nachwort zum Roman „Im Namen der Venus“ verfasst hat. Das Lesen ihrer Zeilen hat mich in der Zeit zurückversetzt. Ich konnte wieder den Küchendunst im Stiegenhaus der kleinen Pension nahe Krems riechen, in der das Grabungsteam untergebracht war. Die verstaubte Oberfläche des Spannteppichs fühlen, mit dem die Holzstiege beklebt war, auf der wir saßen, als wir Christine lauschten, die mit ihrem Mann telefonierte und ihm von ihrem Fund berichtete. …

Wie es wirklich war

Text von Christine Neugebauer-Maresch




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Christine Neugebauer-Maresch 1988 in Stratzing, Foto: privat

"Was soll denn das sein?" habe ich noch heute im Ohr.
Die junge Studentin Natalie Mesensky hatte sich aus ihrer knienden Haltung aufgerichtet und hielt fragend ein kleines Steinstückchen spitz zwischen Zeigefinger und Daumen empor.
Das waren Worte, die von einem Moment auf den anderen die Situation im Gedächtnis aller Anwesenden einprägte und sie wohl ihr Leben lang begleiten werden.
Auf einmal war alles anders.
Ein Kunstwerk, 32000 Jahre alt !

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Erstes Fundstück vom 23. September 1988 (nachmittags) Foto: Christine Neugebauer-Maresch,
mehr auf www.fannyvenus.at

Damit hatten wir wirklich nicht gerechnet. Die Ausgrabungsstätte, der Galgenberg zwischen Stratzing und Krems-Rehberg lieferte zwar hoch interessantes Fundmaterial zur Rekonstruktion eines Lagers altsteinzeitlicher Jäger- und SammlerInnen, doch bestand dieses hochgradig aus steinernen Gerätschaften, sowie dem Abfall ihrer Herstellung.
1985 war beim Bau des Wasserwerkes die Entdeckung dieses Fundplatzes gelungen, aber jetzt, bereits am Ende der dritten Kampagne, am späten Nachmittag des 23. September 1988,
schlug das Schicksal zu.
Ein circa 3 cm großes Stück Schiefer mit deutlichen formgebenden Schnittspuren und Gravuren.


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Grabungsteam mit Venusfigur 1988 in Stratzing, Foto: privat


Nach ersten spontanen und nicht immer ernst gemeinten Reaktionen von Grabungsteilnehmern (die wir hier nicht wiedergeben wollen) war klar:
Eine kleine dreieckige abgesetzte Form kann nur ein Kopf sein, also war das Ganze ein Teil einer menschlichen Figur. Mit deutlichen - alten - Bruchstellen.
Wo ist der Rest?
Zwei kleine Stückchen waren schon vorher im Sammelposten des Quadranten aufgefallen gewesen, sollten sie passen?
"Wir schlämmen das ganze Material noch einmal durch", sagte Max. "Wenn noch etwas da ist, werden wir es auch finden."

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Max Wilding und Natalie Mesensky1988 in Stratzing, Foto: privat


So etwas passiert nur in den letzten Grabungstagen, dachte ich mir und außerdem hätte die Basis der Kulturschicht schon erreicht sein sollen. Da das Sediment aber noch immer kleine Holzkohleflitter aufwies, war es notwendig gewesen, noch einmal einige Zentimeter abzuschaben. Der Abdruck der Figur im Löss bestätigte eindeutig, daß die Basis erst damit erreicht wurde.
Ich verwahrte den Fund in einem Medikamentenschächtelchen, gebettet in Zellstoff.
Als wir die Arbeit an diesem Tag abschlossen, herrschte eine eigentümliche, feierlich Stimmung. Jeder wusste, daß etwas Besonderes geschehen war.
"Unsere Ruhe ist jetzt weg.", war einer der Sprüche.
Wir saßen, schmutzig wie wir waren, im Stiegenhaus unseres Quartiers und berieten darüber, wie wir sie nennen wollten. Der asymmetrische Körper lies von vorne herein vermuten, dass das Ganze eine komplizierte Darstellung und keine einfache Frontale sein musste. Ein erhobener Arm, die Drehung des Körpers, das schaut doch aus wie eine Tanzende, einigten wir uns. Dabei war das alles vollkommen verrückt.
Es gab mit diesem Alter keine Frauenstatuetten, auf der ganzen Welt nicht.
Die bekannten, zumeist dickleibigen - wie die Venus von Willendorf - waren allesamt mindestens 7000 Jahre jünger. Noch ein Monat zuvor hatten die Anthropologische Gesellschaft und die Österreichische Gesellschaft für Ur- und Frühgeschichte anlässlich der 80-jährigen Auffindung der Willendorferin eine große Exkursion veranstaltet, deren Besuchsprogramm sie auch auf den Galgenberg von Stratzing führte. Nach meiner Führung bedankten sich die Leute und wünschten mir viel Erfolg bei den weiteren Grabung.
"Finden Sie auch eine Venus", hieß es da.
"Das wird leider nicht möglich sein", erwiderte ich damals. "Diese Frauenstatuetten gibt es erst in der mittleren Stufe des Jungpaläolithikums, dem sogenannten Gravettien, unser Fundplatz gehört aber dem Aurignacien an. Also dem frühen Jungpaläolithikum, da ist so etwas noch nicht üblich. Aber trotzdem Vielen Dank."
Da soll noch einmal einer sagen, dass gute Wünsche nicht im Erfüllung gehen können. Zumindest in alten Zeiten war das so …

Was gibt´s denn für berühmte Tänzerinnen, deren Name für die steinerne Figur herhalten könnte?
Der Vorschlag kam vom Max und ich fand ihn gleich ideal.
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Kurz zuvor hatte es eine Sonderausstellung über "Fanny Elßler" gegeben, die berühmte Wiener Tänzerin, die "als Botschafterin Österreichs" in Moskau genauso tanzte wie in Amerika und überall ihre Fans hatte. Genau das würde jetzt, zumindest medial, mit dieser Figur auch passieren.
Mit einer Flasche Krimsekt besiegelten wir den Beschluss. Dann gingen wir in unsere Zimmer, ohne Absprache kleideten sich alle feierlich - zumindest soweit dies das mitgeführte Gewand zuließ - und trafen und anschließend zum Abendessen, aber um zehn waren wir alle im Bett. Todmüde, die Aufregung und am nächsten Tag wartete noch anstrengende Arbeit auf uns.
Ich glaube, ich habe diese Nacht alle zwei Stunden ins Nachtkästchen geschaut, ob die Schachtel noch da ist. Aber ganz genau weiß ich das nicht mehr.

Am nächsten Tag wurden die Arbeiten fortgesetzt. Ich bemühte mich um erste Dokumentationsfotos des Fundes. Dazu legte ich das Stück auf einen mit rotem Stoff bespannten Klapphocker. Die zwei kleinen Splitter legte ich an der Hüfte an, in der Meinung sie könnten dort weg gebrochen sein. Kaum hatte ich die ersten Aufnahmen gemacht, hieß es
"Wir haben ein Stück!"
Und tatsächlich konnte nun ein Bein angepasst werden. Also neue Fotos.
Das war damals nicht so einfach, wie heute mit den Digitalkameras: Eine Spiegelreflex mit Schwarz-Weiss-Film, eine für Farb-Dias und eine für Farb-Papierbild-Schnappschüsse. Und kaum war das geschehen, konnte ich nochmals von vorne anfangen:
Das zweite Bein und der Fußabschluss waren gefunden worden!

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24. September 1988: Ergänzung durch die Auffindung der drei Bruchstücke des Beinbereichs.
Foto: Christine Neugebauer-Maresch, mehr auf www.fannyvenus.at


Alles, was sich in der Folge mit Informationsfluss und Öffentlichkeit abspielte, ist heute nicht mehr vorstellbar. Rückwirkend sogar erschreckend, wie massiv sich in diesen 25 Jahren alles geändert hat. Keine Digitalaufnahmen, sondern Warten auf Entwickeln, kein Internet, um schnelle Botschaften zu schicken, ja nicht einmal ein Handy! Heute ist es schon unvorstellbar, dass man jemanden um ihn sprechen zu können auch tatsächlich an ein Festnetztelefon kriegen musste. So beriet ich mich am Wochenende nicht nur mit meinem Mann, sondern erstattete auch dem Leiter der damaligen Abteilung für Bodendenkmalpflege Bericht. Wir vereinbarten ein vorläufiges Stillschweigen, bis alles Rechtliche mit den Grundbesitzern, dem Stift Kremsmünster, geklärt worden wäre. Außerdem wollte ich noch die ersten Radiokohlenstoffdatierungen abwarten, die allerdings in Groningen aufgrund ihrer Wichtigkeit bevorzugt behandelt wurden, und innerhalb eines knappen Monats vorlagen.

Während dieser Zeit setzte ich mich an den Arbeitstisch und durchforstete nochmals alle in Frage kommenden Fundsäckchen nach weiteren Schieferstückchen. Ich fand auch einige kleine Splitter, die wie Abfall aussahen. Ein weiteres circa ein Zentimeter großes Stück ermöglichte zusammen mit den eingangs gefundenen Fragmenten endlich auch die Zusammensetzung des zweiten Armes. Jetzt war die Figur komplett!

Die Vorstellung sollte im Rahmen einer Pressekonferenz im Bundesdenkmalamt in der Hofburg geschehen. Vorbereitung von Pressetexten, Pressefotos und so weiter. Ich hatte ein Holzschächtelchen gebastelt, dessen Glasdeckel abhebbar war; die Figur ruhte darinnen in einer angepassten Vertiefung in rotem Samt.
Am 7. Dezember war es dann soweit. Die Figur wurde aus dem Tresor der Bank geholt und in den Ahnensaal der Hofburg gebracht. Der Präsident des Bundesdenkmalamtes erlaubte es sich persönlich die Schachtel mit der alten Dame zu präsentieren. Die Journalisten wollten natürlich Fotos machen und baten, den Glasdeckel zu entfernen, er spiegelte zu sehr. Gottseidank hielt der Präsident sie über dem Tisch, nicht auszudenken, wenn sie auf den Boden gefallen wäre. Geduldig beantwortete ich alle Fragen, nach einer Stunde war alles vorbei und erleichtert machten wir uns auf den Heimweg.

Die Pressemeldungen streuten über die ganze Welt, aber waren natürlich nicht so einfach zu kontrollieren wie heute mit dem Internet. Noch lange danach bekam ich von Bekannten ausländische Zeitschriften zugeschickt, die auf den Fund der ältesten Frauenstatuette der Welt hinwiesen. Nach zwei bis drei Monaten beruhigte sich das Medieninteresse etwas. Als circa ein Jahr später ein (unautorisierter) Artikel im renommierten Fachblatt "Nature" über die Statuette erschien, läutete wieder einmal das Telefon und es meldete sich ein Journalist einer bekannten Tageszeitung:
"Stimmt das, dass in Österreich eine derart bedeutende Statuette gefunden wurde?"
"Ja es stimmt, und ihre Zeitung hat vor einem halben Jahr auch darüber berichtet" war meine Antwort. Wahrscheinlich war das das kürzeste Telefongespräch, das je darüber geführt wurde.

Ein erweiterter Grabungsbericht wurde als Fund des Jahres 1988 noch in den gerade in Umbruch befindlichen Band des Jahres 1987 aufgenommen, genauso wurde ein erster Artikel noch in der Fachzeitschrift "Germania" mit Ausgabedatum 1987 publiziert. Ich bekam von da an Einladungen zu Vorträgen im In- und Ausland, lernte dabei die "scientific community" kennen und es entstanden daraus auch gute Freundschaften.

Und dennoch gab es von Anfang an etwas, das an mir nagte. Soll man sich wirklich mit der Beschreibung des Objektes und der pauschalen Zuordnung zum kultisch-religiösen Bereich zufrieden geben?
Nichts ist in der Wissenschaft schrecklicher, als wenn Behauptungen aufgestellt werden, die auf persönlich subjektiven Ansichten beruhen und nicht wirklich zu beweisen oder auch zu widerlegen sind. Und dennoch glaube ich, dass die Haltung der Figur eine vermittelnde Rolle gegen den Himmel zu wieder gibt. Ich glaube auch, dass hier ein Mensch dargestellt ist, der diese Mittlerrolle erfüllt. Ich hatte immer den Wusch, diese Statuette einem Schamanen zu zeigen und ihn zu fragen, was er davon halte.

Im Jahr 1989 kam er Zufall (?) zu Hilfe. Die amerikanische Anthropologin und Tranceforscherin Felicitas Goodman befand sich in Wien und hatte von der Statuette gehört. Sie wollte die Haltung mit ihren Studenten ausprobieren. Sie hatte nämlich entdeckt, dass zahlreiche Darstellungen und Plastiken der frühen Kulturen bestimmte Haltungen wieder geben, die zumindest zum Teil auch auf anderen Kontinenten sich wieder finden lassen. Die unikate Haltung der Fanny interessierte sie besonders, da sie die älteste Quelle für ihre Forschungen darstellte.
"Je älter, desto umfassender sind die Tranceerlebnisse" berichtete sie und verwies auf die "Reiseberichte" derProbanden, die sie sowohl in die unteren Welten als auch in die mittlere und obere Welt führten. Archäologie, die versucht, die Lebensbedingungen der prähistorischen Menschen zu rekonstruieren muss mit dem Phänomen des Schamanismus seit diesen Zeiten rechnen. Methoden, die damals das Überleben sichern sollten.
Die Archäologie braucht aber nicht zu entscheiden, ob diese Methode auch funktioniert. Umfangreiche und an verschiedenen Instituten vorgenommene Gehirnstrommessungen zeugen von aussergewöhnlichen Geschehnissen im Körper während der Trance. Die Physiologie sucht die Quellen der Erlebnisse meist in den Personen selbst, die Schamanen sprechen von einer Anderswelt, die parallel zu unserer sichtbaren existiert. Ob man sich als Archäologin für das eine oder das andere oder auch gar nicht entscheidet, bleibt jedem einzelnen überlassen. Aber das Faktum der Durchführung schamanistischer Praktiken im urgeschichtlichen Kontext lässt sich nach dem heutigen Stand der Forschungen nicht mehr verleugnen.

Stratzing, Oktober 2014

Christine Neugebauer-Maresch




Faszination Kult - Ur - Geschichte. Die offizielle Seite von Christine Neugebauer-Maresch.
http://fannyvenus.at

Christine Neugebauer-Maresch, Studium der Ur- und Frühgeschichte, Klassischen Archäologie und Anthropologie. Promotion 1981, seit 1988 Lehraufträge an der Universität Wien, seit 1999 Mitarbeiterin der Prähistorischen Kommission, Mitglied der Quartärkommission und der Verlagskommission, seit 2012 korrespondierendes Mitglied der Österr. Akademie der Wissenschaften und Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Gesellschaften. Leiterin zahlreicher Ausgrabungen und Forschungsprojekte, Trägerin des Goldenen Ehrenzeichen des Landes Niederösterreich.




Die Prähistorische Abteilung des Naturhistorischen Museums in Wien beherbergt eine der größten und vielfältigsten archäologischen Sammlungen Europas. Auch die Fanny, die Venus vom Galgenberg, ist dort ausgestellt.
http://www.nhm-wien.ac.at/forschung/prahistorie/sammlungen/altsteinzeit